Zeitzeugnisse
aus DDR-Bezirken in Thüringen
Neueste zuerst; antichronologisch sortiert
Bericht eingegangen: Oktober 2025
Bundesland Thüringen
Kinderkur in der DDR 1980er Jahre: Frühkindliche Trennungen, Ängste, Heimweh, bleibende körperliche und seelische Folgen
- Kurort: DDR-Bezirk Suhl
- Kurjahr: 1980
- Kurkind: 5-jähriges Mädchen
- Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur (insgesamt 2)
- Grund des Kuraufenthalts: „Infektanfälligkeit/Husten“
Bericht 1. Kur
Zur ersten Kur wurde ich mit etwas über 5 Jahren geschickt, wegen Infektanfälligkeit und Husten.
Die Erinnerungen sind aufgrund des Alters ziemlich bruchstückhaft und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass alle 100%ig korrekt sind oder wie ich mich generell in der Zeit gefühlt habe. Einiges woran ich mich erinnere, deckt sich aber mit den Aussagen zu den Behandlungen im Informationsblatt (XXX), welches die Eltern vorab bekommen haben.
Das Kurheim war ein großer Altbau mit hohen Decken, wohl auch die Stätte weiterer Behandlungen, das XXX. Zu wievielt wir Kinder auf dem Zimmer waren, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls für mich als Neubau-Kind kein kleiner Raum. Ich habe vor Augen, dass ich ein Fach in einer Kommode neben den Betten für meine Sachen hatte.
Die Kur war als Kneipp-Kur ausgeschrieben. In schlimmer Erinnerung sind mir daher auch teilweise die Behandlungen geblieben. Insbesondere die Saunagänge waren furchtbar für mich und ich bin seitdem stark klaustrophobisch. Wir wurden in einen Sauna-Raum geführt, in dem es sehr heiß und stickig war. Wir mussten uns in Reih und Glied auf Stühle/Bänke setzen, ich glaube auf zwei oder drei „Etagen“. Es wurde uns verboten, sich zu bewegen, wir sollten still sein und dann wurden wir Kinder (soweit ich mich erinnere allein) im Raum eingeschlossen. Ich erinnere mich an nur eine Tür mit einem kleinen Sichtfeld und wenig Licht. Ich weiß noch, dass die Hitze für mich jedes Mal unerträglich schien. Ich hatte das Gefühl, ich kann dadurch nicht richtig atmen und muss ersticken. Die Paarung mit dem Bewegungsverbot und der fehlenden Möglichkeit, einfach die Tür öffnen zu können und mich dem zu entziehen, war so schlimm für mich, dass ich immer wieder Todesängste ausgestanden habe. Ich denke, das waren den Umständen geschuldete Panikattacken, durch die ich da als Kind allein durchmusste.
Ich erinnere mich an schmerzhaft kaltes Wassertreten im Kneippbecken. Ich erinnere mich, dass wir in einem gekachelten Raum nackt vor die Wand gestellt wurden und mit hartem Wasserstrahl aus einem Schlauch eiskalt abgespritzt wurden. Ich erinnere mich daran, dass wir nach dem Saunieren oder vielleicht auch so, auf Liegen in einem Laubengang/Wintergarten oder Ähnlichem an der frischen Luft liegen mussten. Fest von Schultern bis Fuß eingewickelt in Decken, mussten wir ohne Bewegungsfreiheit eine halbe Stunde oder auch länger still liegen. Das war eine Qual für mich. Ich war ja auch kein Mittagsschlafkind. Allein das Erleben, warm eingepackt wenigstens an der frischen Luft zu liegen, hat mich das aushalten lassen. Ich erinnere mich, dass ich manchmal sehr große Not hinsichtlich der Toilettengänge hatte. Wahrscheinlich gab es Toilettenzeiten? Es ging jedenfalls so weit, dass ich einmal beim Abduschen nach einer Behandlung unter der Dusche pullern musste, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich war zwar allein, habe mich aber so furchtbar vor mir selbst dafür geschämt. Die Scham hat mich lange im Leben begleitet. Besonders in Erinnerung ist mir diesbezüglich auch die Nacht vor der Abreise geblieben. Uns wurde generell verboten, nachts auf die Toilette zu gehen, damit Ruhe herrscht. Irgendwann habe ich mich doch mal voller Angst vorm Erwischt werden rausgeschlichen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich weiß, dass mir in dieser letzten Nacht auch sehr kalt war, ich nicht schlafen konnte und tausend Tode gestorben bin, weil ich auf Toilette musste. Ich glaube, in dieser Nacht hatten sie uns auf den Zimmern eingeschlossen. Zumindest habe ich das ganz viel später mal erzählt.
Wie das Essen war, weiß ich nicht mehr wirklich. Ich war das, was man heute einen picky eater nennt. Ich mochte bestimmte Konsistenzen nicht, bei denen es mich gehoben hat, z.B. auch kein fettiges Fleisch. Zuhause wurde darauf Rücksicht genommen. Ich kann mir daher vorstellen, dass ich in der Zeit nicht gut gegessen habe und vielleicht auch gehungert hab oder unangenehm auffällig beim Essverhalten war. In meiner darauffolgenden Schulzeit hatte ich dann das, was man heute eine Essstörung nennen würde. Sprich, die Schnitten sind eher im Müll gelandet und das Schulessen habe ich auch oft nur notdürftig freiwillig angerührt.
An andere Dinge kann ich mich jedenfalls auch so gut wie überhaupt nicht erinnern. Auch nicht an Personen. Ich erinnere mich aber dunkel an so eine Art Vorschule. Ich weiß noch, dass wir auch mal im Wald spazieren waren (der war dort schön), auch mit uns gebastelt wurde und Geburtstag gefeiert. Ich erinnere mich, dass ich bei einem Spaziergang ein Blümchen gepflückt habe, was später dann, wieso auch immer, im Gemeinschaftsraum zertreten auf dem Fußboden lag. Das hat mich sehr erschüttert und ist hängen geblieben. Eigentlich ziemlich banal, hat es mich doch total aus der Fassung gebracht. Ich denke, das sagt viel über mein seelisches Befinden aus. Es wurde auch Post an die Eltern geschrieben. Natürlich nicht von uns selbst, wir waren zu klein. Was die Post an uns anging, meine ich mich nur an die Enttäuschung zu erinnern, wenn der Name beim Verteilen nicht aufgerufen wurde. Ich bilde mir ein, dass auch jemand mal ein Päckchen bekommen hat. Vielleicht das Geburtstagskind?
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich Heimweh hatte. Aber bestimmt, da ich auch später in anderen Situationen immer wieder Heimwehgeplagt war. Solange ich zurückdenken kann, hatte ich sehr starke und existenzielle Verlustängste, sicher aufgrund der Prägungen durch eine frühe Krippenzeit – meine Mutter hatte 1975 nur 8 Wochen Mutterschutz und musste mich danach in die Krippe geben. Ich war dadurch allerdings auch immer schon sehr leidensfähig, eher still und zurückhaltend, überangepasst und gut im Aushalten. Ich habe wohl frühzeitig lernen müssen, die Dinge mit mir allein auszumachen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich außer der klaustrophobischen Anwandlungen, die sich später irgendwann meinen Eltern zeigten, wohl keine nennenswerten Auffälligkeiten nach der Kur gezeigt habe. Meine Mutter kann sich nicht erinnern, dass ich direkt nach meiner Rückkehr etwas Negatives erzählt hätte. Die Kur jedenfalls fand dann ihren schrecklichen Abschluss, als ich auf der Heimfahrt nach Hause auf dem Fahrrad – mein Vater holte mich vom Bus auf dem Bahnhof ab – meinen geliebten Teddy verloren hab.
Wenn ich jetzt zurückblicke, kommen mir Worte wie seelische und körperliche Misshandlung in den Kopf. Dass mir das auf eine Art und Weise geschadet hat, das war mir schon lange klar. Thema Klaustrophobie, jahrelanges Nägelkauen, noch mehr Verlustängste. Ich habe so lange ich zurückdenken kann oft thematisch wiederkehrende Alpträume. Dort geht es z.B. um fehlende Möglichkeiten, mich zu erleichtern, dass ich von jemandem angekotzt werde oder meine 7 Sachen nicht zusammensortiert bekomme und zu spät zu einer Abreise komme. Wer weiß, was da in den Erinnerungen noch begraben liegt. Ich habe neben der Klaustrophobie auch noch ein paar andere hinderliche Ängste und Befindlichkeiten im Leben, die ich langsam durch- und abarbeite. Ich bin z.B. chronisch autoimmunkrank, hab Migräne, bin hochsensibel, hab ein dysreguliertes Nervensystem und eine Aufmerksamkeitsstörung, auch eine Bindungsstörung und kein Urvertrauen. Ich bleibe hinter meinen persönlichen Möglichkeiten zurück. Ich denke, dass die meisten Themen ihren Ursprung in diesen frühkindlichen Erfahrungen haben oder diese Kur bereits Vorhandenes durch die frühe Krippenzeit verstärkt hat.
Was so eine Situation tatsächlich für ein kleines Kind in diesem Alter bedeuten mag, welche seelische Belastung, welchen Druck und Überforderung das darstellt, ist mir allerdings erst richtig klargeworden, als ich selbst Mutter geworden bin. Wahrscheinlich war in meinem Fall nicht alles schlecht oder nicht jede Erzieherin unmöglich, aber die 6-wöchige Trennung und das, was dort und in diesem System sonst so alles gelaufen ist, hat allemal gereicht, um Kinder zu traumatisieren. Man war getrennt von den Eltern, ausgeliefert und musste alles, was mit einem gemacht wurde allein aushalten. Mir fällt es sehr schwer, bei diesen Themen gefühlsmäßig tiefer zu gehen. Ich bin eigentlich ein sehr empathischer Mensch, gefühlsbetont, aber hier spalte ich mich irgendwie von mir selbst und den Gefühlen ab. Die Emotionen sind einfach zu viel, wenn ich mir vorstelle, ich war dieses kleine Kind, dem all das widerfahren ist. Und wie muss es erst den Menschen gehen, die dabei noch wesentlich Schlimmeres erlebt haben?!
Hinweis: Das Zeitzeugnis wurde in Thüringen eingeordnet. Nach dieser ersten Kur folgte eine zweite Kur im DDR-Bezirk Rostock. Den Bericht von Oktober 2025 dazu findest du auf den Unterseiten unter Mecklenburg-Vorpommern → Kinderkur in der DDR 1980er Jahre: Jugend, Alltag, Ernährung, Körperbild und soziale Beziehungen.
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Das Projekt mit künstlerisch-dokumentarischem Fokus wird ehrenamtlich und unabhängig betrieben. Ziel ist die Aufarbeitung, Aufklärung und Dokumentation historischer Erfahrungen der DDR-Kinderkuren, um zukünftiges Unrecht zu verhindern.
