Zeitzeugnisse
aus DDR-Bezirken in Brandenburg
Neueste zuerst; antichronologisch sortiert
Bericht eingegangen: Mai 2025
Zentrale Erlebnisse: Körperliche und seelische Gewalt, Schutzlosigkeit, Rückzug, traumatische Langzeitfolgen
- Kurort: DDR-Bezirk im heutigen Brandenburg
- Kurjahr: 1980
- Kurkind: 9-jähriges Mädchen
- Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur (insgesamt 1)
- Grund des Kuraufenthalts: Gewichtszunahme
Triggerwarnung – besonders belastender Bericht: Dieses Zeitzeugnis enthält belastende Schilderungen von Erniedrigungen, Zwangsmaßnahmen und Isolation. Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt sind im gesonderten Themenbereich dokumentiert.
Bitte achte auf dein Wohlbefinden: Atme einmal tief durch, nimm deinen Körper im Hier und Jetzt wahr und mache eine Pause, wenn es dir nicht gut geht. Du kannst den Bericht in Abschnitten lesen und jederzeit unterbrechen, um dich nicht zu überfordern.
Ich war 1980 im Alter von 9 Jahren im Kinderkurheim XXX (...). Wir wurden mit dem Bus von XXX aus dorthin gebracht.
Es herrschte ein sehr rauher Umgangston, sehr strenge Erzieherinnen, kein freundliches Wort, wir mussten nur gehorchen. Zuerst wurde mir mein Kuscheltier abgenommen, alles was an zuhause erinnert wurde weggeschlossen.
Jeden Morgen mussten wir im Keller alle antreten und wurden nackt mit einem Schlauch eiskalt abgespritzt am ganzen Körper. Niemand durfte dabei sprechen. Ich habe mich ganz doll geschämt so nackt dort zu stehen und beobachtet zu werden.
Es gab einen großen Speisesaal, wir durften nicht sprechen beim essen, selbst wer geflüstert hat musste als Strafe hinter seinem Stuhl stehen und zum Boden schauen. Es gab einen Essenszwang, ich musste täglich einen Teller mit Butter essen, vor lauter Ekel habe ich immer wieder erbrochen. Erbrochenes musste wieder gegessen werden, ich habe heimlich meine Hosentaschen mit Essen vollgestopft. Bin ich erwischt worden, gab es Strafen wie doppelte Portion Butter essen und solange sitzen bleiben bis alles aufgegessen ist.
Es gab einen großen Schlafsaal mit 10 Betten, weißes Eisengestell, ich lag im ersten Bett links neben der Tür. Jüngere Kinder wurden gequält von den älteren. Mir wurde im Schlaf oft ein Kissen ins Gesicht gedrückt, ich wurde am Hals gewürgt. Die eigene Wut und Verzweiflung wurde an den kleinen Kindern ausgelassen. Niemand wurde beschützt, niemand hat geholfen, jeder hatte selbst großes Angst. Ich habe im Bett viel geweint und war völlig verzweifelt, ich hatte jede Nacht Panik. Wenn ich beim weinen erwischt wurde oder mich jemand verpetzt hat musste ich mich in die Mitte des Raumes stellen und die Erzieherinnen haben alle Kinder animiert mich als “alte Heulsuse” zu beschimpfen. Danach habe ich nie wieder geweint.
Nachts durfte niemand auf Toilette. Ich habe manchmal ins Bett gemacht. Dann musste ich mich morgens mit dem nassen Bettlaken wieder in die Mitte stellen und alle Kinder im Kreis um mich herum sollten mich auslachen und beschimpfen mit „iiih du alter Bettsecher“ etc. Von da an hatte ich immer Angst einzuschlafen, hab mich stundenlang wach gehalten, um alles unter Kontrolle zu haben.
Wir mussten jede Woche alle zusammen eine Postkarte nach Hause schicken, die uns von einer Erzieherin im Gruppenraum diktiert wurde, immer mit dem gleichen Inhalt. „Liebe Eltern, hier ist es schön. Wir spielen viel und ich habe viele Freunde gefunden“.
Einmal habe ich auf die Karte geschrieben, dass ich ganz doll Heimweh habe und dass sie mich bitte abholen sollen, weil ich es nicht mehr aushalten kann. Die Karte wurde sofort zerrissen und ich bestraft, weil ich undankbar war. Ich kam in Dunkelhaft, einem Raum im Turmzimmer ohne Licht. Dort musste ich stundenlang alleine auf dem Boden sitzen.
Die Kinder wurden immer wieder dazu angehalten, Regelverstöße von anderen bei der Erzieherin zu melden. Dafür bekamen sie ein Lob. Das hatte zur Folge, dass ständig Kinder zu unrecht gemeldet und bestraft wurden, jeder wollte mal einen Moment positive Aufmerksamkeit.
Die Erzieherinnen haben mir immer wieder gedroht “du darfst erst nach Hause, wenn du 5 kg zugenommen hast”. Und bei jedem Wiegen habe ich immer mehr abgenommen. Hab fast jede Mahlzeit, die mir reingestopft wurde erbrochen. Ich musste stundenlang am Tisch sitzen, bis der Teller leer war, oft bis zur nächsten Mahlzeit und hatte heftigste Magenkrämpfe und dauerhafte Übelkeit. Oft genügte schon ein Blick auf den Teller und ich musste mich übergeben. Ich habe dabei die Muster im Fußboden mit den Augen nachgemalt, um mich abzulenken.
Einmal habe ich ein Päckchen von meiner Mutter bekommen. Ich weiß noch genau, dass ich mich damit in den Schlafsaal alleine zurückziehen wollte, um es in Ruhe zu öffnen. Aber das durfte ich nicht. Ich musste es vor der ganzen Gruppe auspacken. Meine Mutter und meine beiden Omas hatten mir eine Postkarte geschrieben, die musste ich laut vorlesen vor allen Kindern (die Erzieherin meinte, da kannst du gleich mal lesen üben). Ich las stockend, stotternd vor Scham, weil ich es nicht wollte, es war doch meine Post, nur für mich. Ich wurde von der ganzen Gruppe ausgelacht. Ich war so tief verletzt und mir rannen die Tränen übers Gesicht, das Heimweh war so schlimm, dass ich dachte ich überlebe es nicht. Ich hatte Todesangst nie wieder von dort wegzukommen. In dem Päckchen waren Süßigkeiten, die ich sofort abgeben musste – die Erzieherin hat alles aufgeteilt. Nur einen Buntstift durfte ich behalten. Den habe ich heimlich mit ins Bett genommen, es war das einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist.
Als ich mich wieder einmal übergeben habe und stundenlang vor diesem Teller saß, weil ich es nicht geschafft habe, das Erbrochene zu essen
Hinweis: An dieser Stelle wird der Missbrauch beschrieben, der aus Sensibilität gegenüber der Leserin/dem Leser unter dem Themenbereich „Sexualisierte Gewalt“ eingefügt ist. Bitte beachten Sie, dass die Inhalte möglicherweise belastend sein können.
Die Reaktion meiner Mutter:
‚Als du nach 6 Wochen wiederkamst mit dem Bus war ich völlig geschockt. Du bist aus dem Bus gestiegen, total verstört, völlig bleich, abgemagert und bist ohne uns zu begrüßen nur noch gerannt, gerannt, gerannt… Dein Gepäck hast du zurückgelassen und wolltest nur noch weg. Die nächsten Wochen hast du ständig Mahlzeiten erbrochen, hast Essen komplett verweigert, hast dich völlig zurückgezogen, in der Schule hast du kaum noch mit jemanden gesprochen und saßt nur noch in deinem Kinderzimmer allein und wolltest niemanden sehen. Du hattest ganz viel Heimweh in der Kur.‘
Meine Eltern haben nie erfahren, was passiert ist. Ich hatte Panik, dass ich von meinen Eltern weg muss. Ich musste schweigen und dieses Schweigen habe ich erst in meiner Therapie durchbrochen.
Hinweis: Das Zeitzeugnis wurde in Brandenburg eingeordnet.
Bericht eingegangen: Mai 2025
Kinderkur und Wochenkrippe sowie die fehlenden Erinnerungen
- Kurort: DDR-Bezirk Neubrandenburg
- Kurjahr: circa 1986/87
- Kurkind: etwa 7 oder 8-jähriges Mädchen
- Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur von insgesamt 1
- Grund des Kuraufenthalts: unbekannt
„(...) ich habe lange nicht gewusst wo diese (Anmerkung der Redaktion: Kinderkureinrichtung) gewesen sein soll in der ich war. hatte nur ein Bild und eben im Internet erkannt... (...)
ich weis nicht wann genau ich da war (...) ggf bin ich so 7 oder 8 Jahre alt (...) also muss es so 1986/87 gewesen sein. oder vielleicht doch älter oder jünger? (...)
Ansonsten erinnere mich nur wenig an die Zeit dort. Auch ob es 4 oder 8 Wochen waren weis ich nicht. Ich weis nur das, ich in meinen Heimatort von meiner Mutter am Bahnhof einer fremden Frau übergeben wurde und diese schweigsame Zeit im Zug für mich ewig gedauert hatte. Und ich mich nicht auskannte, wohin es mit mir ging.
Von der Zeit dort kann ich mich erinnern, dass wir einmal ein Spiel im Wald machten. Eine Schnipseljagd, wo wir Kleineren von den Großen gefunden werden mussten. Die Erzieherinnen die bei uns waren, hörten etwas und wiesen uns an, uns in den Schnee zu legen um uns zu verstecken. Wir lagen ewig dort im Schnee mitten im Wald rum, gefühlte Stunden, bis wir alle durchgefroren waren. Irgendwann gaben wir oder besser gesagt die Erzieherinnen auf, da wir alle vor Kälte jammerten. als wir zurück kamen und durch den Hintereingang vom Wald reinkamen, stellten wir fest, dass die Großen bereits seit Längeren zurück sein mussten. sie saßen schon beim Essen und Tee.
Eine weitere Szene an die ich mich erinnere, ist aus dem Speisesaal. Wir sagen das Lied "wir haben Hunger, Hunger, Hunger...essen Fliegen Fliegen Fliegen usw." und ich glaube, wir mussten immer alles aufessen. Ich wurde ja dort hingeschickt weil ich so dünn war.
Eine letzte Erinnerung war von einer Nacht, wo die Großen unruhig im Flur herumliefen und ich glaube, irgendwie ein bissl rebellierten. Ich lag in meinem Bett und hatte aufgrund dieses Lärmes Angst. Ein Mädchen wollte das ich mit raus auf den Flur komme. Kurz bin ich mit raus, aber verkroch mich dann doch wieder ängstlich in das Bett.
Allerdings habe ich keine Erinnerung wie dieses Zimmer aussah oder was ich sonst noch dort erlebt habe. Nur das es Winter war und diese wenigen Szenen.
Ich weis nicht, ob ich was verdränge oder ob ich die ganze Zeit dort in eine Art Schockzustand war Schockzustand deswegen, weil ich bereits aus meiner Wochenkrippenzeit ( mit 6 Monaten bis zur Schule, von Mo-Fr. über Nacht in dieser Wochenkrippe/Kindergarten) Verlustängste hatte. Aber wie ich aus anderen Geschichten rauslese, hat kaum jemand richtige Erinnerungen an diese Kurheime. Was glaubt ihr warum das so ist? Ich kann mich an Ferienlager und andere frühe Erlebnisse sehr gut erinnern. Nur nicht an diese Zeit. Aber an diese Wochenkrippenzeit auch nicht wirklich. Nur das ich es gehasst habe und immer schrecklich weinte, wenn mich meine Mutter teils Sonntagabend dort wieder für die ganze Woche abgab.
Ich habe noch ein Bild* von uns Kindern auf einer Treppe vor der (Anmerkung der Redaktion: Kinderkureinrichtung). Würde mich sehr freuen, wenn ihr von eurer Zeit dort etwas berichten könnt. Ggf kommen dann Erinnerungen hoch. Alles Liebe. (...)“
*Das erwähnte Bild liegt nicht vor.
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