Vom Verschwiegenen ins kollektive Gedächtnis

Zeitzeugnisse

aus DDR-Bezirken in Sachsen-Anhalt

Neueste zuerst; antichronologisch sortiert


Bericht eingegangen: November 2025

Bundesland Sachsen-Anhalt

  • Kurort: DDR-Bezirk Halle
  • Kurjahr: 1965/66 oder 1966/1967
  • Kurkind: ca. 8-jähriges Mädchen
  • Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur (insgesamt 1)
  • Grund des Kuraufenthalts: „Untergewicht infolge Lungenerkrankung“

Kinderkur in der DDR 1960er Jahre: Notwendigkeit durch Erkrankung, Vernachlässigung, Zwang, Drohung, Unrechtsbewusstsein und mütterlicher Besuch

An das genaue Jahr erinnere ich mich nicht mehr. Ich bin im (...) 1958 in XXX (damals zum Bezirk Halle gehörig) geboren und war zum Zeitpunkt der Kur ein Kind im Grundschulalter. Mit Hilfe meines Zeugnisheftes, in dem auch meine Fehltage verzeichnet sind, kann ich den Zeitraum ungefähr eingrenzen: In der zweiten Klasse (Schuljahr 1965/66) sind 45 Fehltage verzeichnet, im dritten Schuljahr (1966/67) sogar 61 Tage. Danach normalisierten sich meine Fehlzeiten. So nehme ich an, dass ich in der 3. Klasse war, als ich zur Kur geschickt wurde, also etwa acht Jahre alt.

Dass ich vorher öfter krank war und sogar im Krankenhaus (damals: Polyklinik) lag, weiß ich noch. Ich war sehr dünn, und erinnere mich dunkel, dass einmal meine Mutter, als sie mit mir in der Stadt unterwegs war, sogar deswegen angesprochen wurde – was ihr und mir peinlich war. Sie war wohl verärgert über die Übergriffigkeit der Bemerkungen, ich war beschämt, weil ich mich kritisiert fühlte. In der Schule ließen meine Leistungen auffällig nach. Weil ich hustete und wenig aß, schickte mich schließlich der Hausarzt zum Röntgen, wobei man „Schatten“ auf meiner Lunge entdeckte. Es folgten der oben erwähnte Krankenhausaufenthalt und die Kur.

Die Kur dauerte sechs oder acht Wochen und sollte meiner Erholung dienen, vor allem sollte ich dort zunehmen und kräftiger werden. Meine Mutter kaufte und nähte mir extra neue Kleidung für diesen langen Zeitraum, jedes Kleidungsstück musste ein Namensschildchen bekommen. Ich sehe noch vor mir, wie sie abends, wenn ich ins Bett musste, nähend am Tisch saß und weiß noch, dass ich ein Kleid bekam, auf das ich besonders stolz war: blau mit schwarzen Glitzerperlen bestickt, die sie von einem ihrer Kleidungsstücke abgetrennt hatte.

Dann erinnere ich mich an die Ankunft in XXX. Der Name des Ortes hat sich mir eingeprägt, den Namen des Heimes weiß ich nicht mehr. Es war jedoch eine große Villa, die einmal einem (...) Fabrikanten gehört hatte, wie man uns erzählte, mit einem Park und einem (...) darin. In einem der größeren Räume gab es eine Grotte, die mich sehr beeindruckte. Ansonsten erinnere ich mich noch an eine (für mich) imposante Treppenanlage und ein hölzernes Geländer, über das man in den unteren Bereich schauen konnte. Die Schlaf- und Waschräume waren oben. In meinem Schlafraum standen viele Betten, im Waschraum gab es Reihen von Waschbecken (es könnten auch durchgehende Waschrinnen gewesen sein). Ganz oben unter dem Dach standen Schränke; hier mussten wir unsere Koffer verstauen und einen Vorrat an Kleidung (für eine Woche?) herausnehmen. Ich weiß noch, dass ich ein bisschen ratlos war und schließlich mein schönes neues Kleid mitnahm, dann wurde alles abgeschlossen. Als ich nach ein paar Tagen merkte, dass ich auch neue Wäsche brauchte, war es zu spät. Ich musste meine Sachen bis zum nächsten offiziellen Wäschewechsel tragen. An die vor Schmutz steifen Sohlen meiner Strumpfhose erinnere ich mich bis heute.

An einem der ersten Tage dort saßen wir Kinder alle in einem großen Raum. Es müssen viele Kinder unterschiedlichen Alters gewesen sein. Wir wurden in Gruppen eingeteilt und erhielten später auch Schulunterricht, an den ich mich aber nur dunkel erinnere. Ich glaube, ich kam nicht so recht mit. Der „Begrüßungstag“ ist mir vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil uns in einer strengen Ansprache die Regeln des Heimes bekannt gegeben wurden, darunter auch, dass wir in Briefen nach Hause nichts Negatives berichten durften; die Briefe würden alle von den Erziehern gelesen, drohte man uns, und die, die womöglich Klagen (= Lügen) enthielten, nicht abgeschickt. Es wurde auch behauptet, dass unsere Eltern schriftlich Erlaubnis erteilt hätten, uns zu schlagen, wenn wir nicht gehorchten. Spätestens hier, das weiß ich noch genau, regte sich Widerspruch in mir. Dass man Kinder nicht (mehr) schlagen darf und meine Eltern so etwas nie unterschrieben hätten, wusste ich sicher und damit auch, dass die Erwachsenen hier nicht die Wahrheit sagten. War ich bis dahin hauptsächlich verschüchtert und darauf bedacht gewesen, alles richtig zu machen, war ich von nun an skeptisch und auf der Hut.

Drei Situationen sind mir besonders in Erinnerung geblieben:

- Das Essen: Wir bekamen zu jeder Mahlzeit bereits gefüllte Teller und mussten aufessen, was immer darauf lag. Das fiel mir besonders schwer, da ich solchen Zwang von zu Hause nicht kannte. Wenn auf dem Abendbrotteller zum Beispiel mit Blutwurst oder knorpeliger Sülze belegte Brote lagen, hatten wir ein Problem, denn das mochten die meisten Kinder nicht. Ich erinnere mich, dass mir die heruntergewürgten Bissen manchmal wieder hochkamen und auch, dass ich einmal versucht hatte, den Brei in meine Hand zu husten und dann in meiner Kleidertasche (die danach natürlich völlig verdreckt war) zu verbergen. Gab es zum Beispiel Leberwurstbrote, freuten wir uns. Dennoch war schon die schiere Menge für mich zu viel. Durst hatte ich dagegen öfter, warum, weiß ich nicht. Sicher bekamen wir zu den Mahlzeiten auch Getränke (?), doch dazwischen vermutlich nichts. Manchmal schlich ich mich abends aus dem Schlafsaal in den Waschraum, wo ich das Wasser aus der Leitung trank. Bei einer solchen Gelegenheit sah ich über das Geländer hinweg unten im Speiseraum ein Kind, das mit gesenktem Kopf, beaufsichtigt von einem Erwachsenen, noch immer vor seinem Teller saß. Wir wurden übrigens jede Woche gewogen, hatten wir nicht zugenommen, sollten wir noch mehr essen.

- Das Duschen: Normalerweise wuschen wir uns im Waschraum an Waschbecken, geduscht wurde in größeren Abständen in einem anderen Raum, an dessen Decke Leitungen mit mehreren Duschköpfen verliefen. Wir mussten uns ausziehen und in Gruppen nackt darunter stellen, während eine Erzieherin an der Wand stand und von dort aus das Wasser auf- und abdrehte. Einmal war das Wasser so heiß, dass es weh tat, und ein paar Kinder weinten deswegen, während andere versuchten, möglichst am Rand der dampfenden Kaskaden stehen zu bleiben oder nur kurz unter dem Wasserstrahl durchzuhuschen. Die Erzieherin am Wasserhahn herrschte uns an, dass wir mit dem Theater aufhören sollten; sie würde das Wasser sonst noch heißer drehen.

- Der Toilettengang: Meine Gruppe musste zum Spaziergang antreten. Ich war vorher nicht auf der Toilette gewesen und traute mich nicht, das zu sagen. Wir gingen in einer langen Zweierreihe endlos durch irgendwelche Straßen. Unterwegs musste ich dringender und dringender, und schließlich ging es in die Hose. Ich musste am Ende der Gruppe weiter mitlaufen und habe mich so geschämt. Im Rückblick bin ich mir nicht sicher, ob wir überhaupt allein zur Toilette durften oder zu festen Zeiten gehen mussten, denn normalerweise haben wir uns nicht frei im Haus bewegt. Das würde auch erklären, wie ich in diese Lage kommen  konnte. So etwas wie Freizeit oder Rückzugsorte scheint es nicht gegeben zu haben. Ich erinnere mich hauptsächlich an ein Dasein in Gruppen, Unterricht, Malen oder Basteln an langen Tischen, gemeinsames Briefeschreiben nach Hause. Herumtoben oder Spiele zu zweit oder zu dritt kommen in meiner Erinnerung nicht vor. Dennoch fand ich eine Freundin, sie hieß XXX oder XXX (oder hatte einen ähnlich sanften Namen) und war ein besonders zerbrechliches Kind. Im Schlafsaal lag sie im Bett neben mir, und abends, wenn alle schliefen, schmiedeten wir unter unseren Bettdecken mit leiser Stimme Fluchtpläne. Wir wollten die Federbetten aufbauschen, um vorzutäuschen, dass wir darunter lagen, und dann an unseren Bettlaken aus dem Fenster klettern und nach Hause laufen. Ich glaube, dabei war ich die treibende Kraft, sie war ängstlich, da sie herzkrank war und wusste, dass sie sich nicht aufregen oder anstrengen durfte. Sie sagte, sie könne sonst sterben. Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass auch ein Kind sterben kann.

Insgesamt scheinen hauptsächlich Kinder wie sie und ich, die als zu dünn, zu schwach oder sonstwie zu kränklich aufgefallen waren, nach XXX geschickt worden zu sein. Ob sich jemand dort tatsächlich erholte, kann nicht sagen. Ich tat es jedenfalls nicht. Als ich nach Hause kam, hatte ich weiter abgenommen. Meiner Mutter fiel auf, dass ich sehr still geworden war. Sie hatte mich einmal während der Kur besucht, was eigentlich nicht erwünscht und eine große Ausnahme war, es aber dennoch irgendwie durchgesetzt. Ich habe mich so gefreut! Wir gingen gemeinsam um (...) herum, das Wetter war trüb und feucht, und ich erzählte ihr alles! Sie redete mir die Fluchtpläne aus, dennoch fühlte ich, dass sie auf meiner Seite war. Dann fuhr sie wieder ab, und ich musste dableiben. Warum sie mich nicht einfach mitnehmen konnte, habe ich nicht verstanden. Später sagte sie mir, wie leid ihr das tat. Und dass sie, wenn sie alles vorher gewusst hätte, lieber mit mir eine Woche an die Ostsee gefahren wäre. Aber ob es diese Option überhaupt gegeben hätte? Gemeinsame Urlaube mit Mutter und/oder Vater (wir waren eine fünfköpfige Familie) blieben die Ausnahme. Oft verbrachten wir Kinder einen Teil der langen Sommerferien, wie es damals üblich war, in Ferienlagern, in denen wir zwar ebenfalls Heimweh, aber doch auch schöne Zeiten hatten. Da gab es Ausflüge, Feste mit selbst gestalteten Programmen, Lagerfeuer, Lärm und Spaß. In meiner Erinnerung war das ein himmelweiter Unterschied zum freudlosen, reglementierten und angstbeherrschten Gruppenleben in der Kinderkur.

Eine Kur habe ich nie wieder angetreten, auch wenn es mir in späteren Lebensjahren mehrmals geraten wurde. Da ist und bleibt die Erfahrung einer vollkommenen Abhängigkeit in prekären Umständen. Wahrscheinlich war es nicht überall so. Grundsätzlich war die Intention, kranken Kindern Hilfe und Pflege zu bieten, ja gut. Woran scheiterte es dann in manchen Fällen? Lag es an diesem  speziellen Mikrokosmos eines Heimes, in dem Kinder über längere Zeit und ohne nennenswerten Kontakt zu ihren Familien einer Gruppe von Menschen ausgeliefert waren, die der Versuchung von Macht nicht widerstehen konnten – also einfach am jeweiligen Personal vor Ort? Oder gab es  tatsächlich „pädagogische“ Richtlinien zum Umgang mit Kindern, die irgendwie nicht der Norm entsprachen – auch wenn sie „nur“ krank waren? Allgemein war ja der Umgang mit Kindern zur Zeit  meiner Kindheit ein anderer als heute. Die Generation unserer Eltern und Lehrer hatte den Krieg und  auch danach noch lange Hunger und Mangel erlebt. Erst im meinem Geburtsjahr 1958 erzählte mir  meine Mutter zum Beispiel, waren in der DDR die Lebensmittelmarken und damit die Rationierung von Grundnahrungsmitteln abgeschafft worden. Den Kindern volle Teller vorzusetzen, war gut  gemeint, und diese leerzuessen, „gehörte sich“ und wurde z.B. auch in der Schulspeisung von uns  erwartet (doch wurden wir dort nicht dazu gezwungen). Wir waren in der Regel nicht anspruchsvoll, relativ selbständig und mit unserem Leben zufrieden. Fast alle Eltern waren berufstätig und tagsüber nun mal nicht da. Das Einfügen in Gruppen kannten wir aus Kindergarten, Schule und Hort, wo es manchmal auch etwas rauer zugehen konnte. Wir haben uns, wenn nötig, auf unsere Weise damit  arrangiert, ohne Schaden zu nehmen, denke ich. Das war Teil unserer Normalität.

Anders verhält es sich mit meinen Erinnerungen an die Kinderkur. Warum sind mir hier vor allem Eindrücke von Unrecht, Zwang und Bedrohung geblieben? Mir war zwar schon als Kind bewusst, dass der Umgang mit uns nicht in Ordnung gewesen sein konnte, doch ohne die Berichte Betroffener, die seit einigen Jahren veröffentlicht werden (und weit Schlimmeres offenbaren), hätte ich meine unguten Erfahrungen eher als untypisch und persönliches Pech betrachtet. So aber scheinen sie sich doch in ein System einzufügen, das in ähnlichen Konstellationen bis heute anzutreffen ist und hinterfragt werden sollte. Deshalb habe ich nach all den Jahren meine wenigen Erinnerungen aufgeschrieben.

Persönlich notiert im September 2024

Hinweis: Das Zeitzeugnis wurde in Sachsen-Anhalt eingeordnet. 


Beitrag eingereicht: Mai 2025

Bundesland Sachsen-Anhalt

Behandlungsansätze und Erziehungsmethoden während des Kuraufenthaltes, heutige Suche in der Aufarbeitung

  • Kurort: DDR-Bezirk Magedeburg
  • Kurjahr: 1976
  • Kurkind: 8-jähriges Mädchen
  • Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur (insgesamt 1)
  • Grund des Kuraufenthalts: zu dünn

Triggerwarnung: Der folgende Bericht beschreibt persönliche Erfahrungen mit belastenden Erinnerungen und schweren Themen. Bitte atme einmal tief durch, nimm deinen Körper im Hier und Jetzt wahr. Du kannst den Text in Abschnitten lesen, um dich nicht zu überfordern.

„Lange habe ich überlegt, wie ich hier am besten schildere was mir passiert/widerfahren ist – wie ich es am besten in Worte fassen kann ohne mir weiterhin einzureden „Du bist bestimmt selbst daran schuld"!

Meine Eltern, meine Schwester und ich wollten endlich in die langersehnte neue Wohnung umziehen. Dies bedeutete für mich zwar einen Schulwechsel, aber ich war mir sicher auch dort bald neue Freunde finden zu können. Kurz vor dem Umzug offenbarte mir meine Mutter, dass ich zu krank/zu dünn wäre und ich erst mal für Wochen zur Kur müsste – dass wäre besser so für mich.
Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei gesundheitliche Probleme – noch war ich zu dünn! Ich war ein völlig normal gebautes 8jähriges Mädchen.
Der Tag der Abreise kam schnell, meine Mutter brachte mich zum Busbahnhof – winkte kurz und ich fuhr ins Ungewisse.

Wir waren nur Mädchen.

Im Heim angekommen wurden wir empfangen als wären wir schon wochenlang dagewesen. Jacke aus – Zimmerzuweisung – Koffer auf den Boden..., alles war sehr kalt, unpersönlich und es roch ekelhaft. Ich erinnere mich noch, dass ich von daheim Brote mitbekommen hatte mit meiner Lieblingswurst, ich hatte sie im Bus nicht gegessen und freute mich darauf, als eine Tante (so mussten wir die Erzieherinnen nennen) die Brotbüchse sah, musste ich sie sofort abgeben und habe sie nie wieder gesehen.

In der Bodenkammer sollte man dann aus seinem Koffer Wechselwäsche für 1 Woche herausnehmen - ich packte also Wechselwäsche für 7 Tage zusammen (wie ich es von zu Hause gewohnt war Unterwäsche also 7mal), als ich damit an der Tür der Bodenkammer ankam, standen dort zwei „Erzieherinnen" die die Sachen kontrollierten. Kurz gesagt ich musste 6x Wäsche zurückbringen, da ich diese nicht brauchen würde.
Die übriggebliebene Wäsche (alles nur 1x) wurde vor dem Zimmer an einer kleinen Garderobe abgelegt. Im Zimmer – ein Vierbettzimmer gab es außer 4 Betten nichts – keinen Schrank – keinen Nachttisch – einfach nichts!
Wir durften auch während dieser Zeit nicht sprechen oder uns miteinander bekannt machen – Namen wären nicht wichtig.
Wir wurden dann eingewiesen was wir zu tun und zu lassen hätten.
Nicht sprechen – Toilettenzeiten wurden vorgegeben – Waschen nur mit Erlaubnis uvm. 

Danach ging es zum Essen.
Jetzt wusste ich, woher dieser schreckliche Geruch der überall im Gebäude hing, kam.
Ich war immer ein sehr aufgewecktes, verspieltes Kind, hatte nie Probleme damit mit fremden Menschen zu reden und auch zu sagen was mir nicht gefiel oder was mir nicht schmeckte. Ein „Glück" für mich, dass ich nicht die Erste war die dies tat! Nein, ein kleines vielleicht 6 Jahre altes Mädchen sagte „ich esse das nicht" - ich weiß bis heute nicht ob sie es jemals gegessen hat, denn als wir anderen gingen saß sie noch alleine im Speisesaal und wir sahen sie erst am nächsten Tag wieder.

Wir wurden um 6 Uhr geweckt und mussten uns nur mit Schlüpfer bekleidet im Gang aufstellen – jeder von uns bekam eine Bürste und wir mussten Bürstenmassage machen – gegenseitig.
Es war so peinlich, vor allem ja auch da wir nur eine Schlüpfer für eine ganze lange Woche hatten und jeder sich schämte.

Während wir das tun mussten standen „Erzieherinnen um uns herum und schauten zu. Bürsteten wir zu „sanft" - wurde uns „gezeigt" wie wir es zu tun hätten – nämlich so, dass wir am Ende überall völlig rot waren und manchmal sogar Blut floss.
Manchmal stand da auch ein (...) Mann in einem Kittel, sah aus wie ein Arzt, (...) wir mussten dann einzeln (...) in das (XXX)zimmer, wurden von Ihm gewogen (...) und bekamen einen Spritze in den Po – an mehr erinnere ich mich leider nicht.

Danach durften wir zur Toilette, was wir nur 3x am Tag durften und nicht wann wir wirklich mussten. Wir bekamen ein kleines Stück Toilettenpapier zugeteilt und die Tanten stellten sich vor die Toiletten und schauten uns zu.
Kaltes Wasser – alles immer unter Beobachtung. 

Ich verstand das alles nicht, denn alles was ich bis dahin von daheim her gelernt hatte – war hier plötzlich falsch.

Danach zum Frühstück – es gab irgendwie immer das gleiche. Puddingsuppe mit einer dicken Hautschicht als wäre sie Tage alt. Eine kleine Tasse Tee war das größte Highlight, denn es gab nur 3x täglich etwas zu trinken – ich erinnere mich auch, dass wir danach ständig irgendwelche Tabletten schlucken mussten – niemand sagte uns weshalb und wofür.
Wir mussten immer alles aufessen – ob es uns schmeckte oder nicht. Wer das nicht tat, blieb solange am Tisch sitzen – bis er es tat.

Danach in den „Schulraum" es gab noch nicht einmal Lehrer, aber wir mussten alle an einer Holzbank sitzen und irgendeiner „Tante" zuhören – manchmal schrieben wir etwas von der Tafel ab – manchmal sollten wir rechnen, da wir alle nicht im gleichen Alter waren – aus heutiger Sicht völlig sinnlos. 

Dann ging es wieder zur Toilette und zum Mittagessen! Das Mittagessen war wie ich finde das Schlimmste – es gab Zeug was ich vorher noch nie gesehen hatte – es roch übel, aber man musste aufessen. Wieder sah ich das kleine Mädchen sich sträuben, diesmal nahmen zwei „Erzieherinnen sie und zerrten sie in eine Tür die sich am Speisesaal befand – ich sah sie an diesem Tag nicht wieder.

Nachdem Mittagessen schlafen, dass kannte ich von zu Hause nicht, aber irgendwie war man seitdem man dort war immer Müde – lag es an dem Tee den man uns verabreichte oder woran sonst? Ich weiß es nicht – ausgepowert waren wir nun wirklich nicht.
Nachdem schlafen durften manche Kinder sich anziehen und spazieren gehen – andere nicht. Dies wurde immer einen Abend vorher entschieden! Immer nachdem Abendbrot gingen wir in den„Schulraum" und wurden dort von den Tanten bewertet.
An einer Pinnwand hing eine Tabelle wo jedes Kind jeden Tag Punkte bekam. Rote Punkte waren gut und Du durftest am nächsten Tag mit spazieren gehen, hattest Du blaue Punkte, weil Du eventuell zu oft nach der Toilette gefragt oder einfach nur gesprochen hattest, weil Du nicht „essen wolltest" oder ähnliches wurde man weggesperrt. In den 6 Wochen meiner „Kur" durfte ich lediglich 1x mit spazieren gehen!
Ich weiß noch genau, es hatte geschneit und manche Kinder durften Rodeln – ich musste mit dem Rücken zum Rodelberg ausharren und warten bis wir wieder zurückgingen.
Weggesperrt heißt; in der Bodenkammer gab es kleine fensterlose Räume – es gab kein Licht und man saß in völliger Dunkelheit – man wusste wenn man raus durfte nicht mehr ob es Tag oder Nacht war.

Einmal durften wir eine Karte für unsere Eltern schreiben – leider stand der vorgeschriebene Text an der Tafel und wir mussten ihn abschreiben und so wurde die Karte dann an unsere Eltern geschickt. Wir schrieben wie schön es doch wäre und wie gut das Essen sei, nichts davon stimmte, aber schrieben wir das nicht so – wurde die Karte nicht abgeschickt.

Ich weiß nicht wie lange ich schon dort war und wie oft ich gesehen hatte wie viele von uns sich weigerten zu essen – wie viele sich vor Ekel erbrachen – immer fingen die Tanten an sie mit Gewalt zu füttern, bis sie letztendlich auch ihr erbrochenes gegessen hatten. Danach wurde man in den Keller gebracht – was dort vorging – daran kann ich mich entweder oder will ich mich nicht erinnern.

Ich wollte es „besser" machen! Es gab Leber zum Mittag – schon der Geruch war pervers, dass konnte ich nicht Essen – ich legte mir in Gedanken einen Plan zurecht und hoffte auf Erfolg. Ich stopfte mir alles auf einmal in den Mund - passte genau auf das die „Tanten" weit genug von meinem Tisch entfernt waren und rannte zwei Stufen auf einmal nehmend los um im ersten Stock die Toilette zu erreichen, alles hineinzuspucken und schnell zu spülen.
Es ging schief – sie holten mich ein und ich aß mein Mittag aus der Toilette.
Ich habe es nie wieder versucht.
Das sind Dinge die man nie vergisst – bis heute habe ich Brechreiz wenn ich nur Leber sehe oder rieche.

Ich erinnere mich auch noch, dass sich meine Gedanken immer um „Flucht" drehten und ich Pläne schmiedete, wie ich aus diesem Heim herauskam.

Ich dachte, wenn ich sehr krank werden würde müsste ich ins Krankenhaus oder vielleicht würde ich sogar sterben.
Eines Nachts lies ich mich also aus dem Bett fallen in der Hoffnung mich zu verletzen, als die Tanten kamen tat ich so als sei ich Bewusstlos – sie versuchten mich „wach" zu rütteln und als das nicht gelang gingen sie einfach weg und ließen mich liegen.
Die ganze Nacht blieb ich ohne Decke auf dem Boden liegen, es war fürchterlich kalt, aber ich hielt durch in der Hoffnung das ich wenigstens eine schwere Erkältung bekommen würde..., leider ging auch dieser Plan schief.
Die Gedanken an Selbstmord bin ich bis heute nie wieder los geworden.

Dann kam der Tag an dem ich dort meinen Geburtstag hatte.
Ich hatte die Woche vorher beim „Wäschewechsel" der immer Sonntags in der Bodenkammer stattfand bereits das Kleid was ich mit hatte mit nach unten genommen und zog es an.
Nachdem Anziehen wurde ich zur Heimleitung gebracht – also kein Frühstück!
Ich musste das Kleid ausziehen, dass sei ein völlig normaler Tag – ich sei nichts besonderes.... keiner gratulierte.
Auch stand dort ein bereits geöffnetes Paket von meinen Eltern.
Ich sah Süßigkeiten und ein Paar Winterstiefel – die Stiefel durfte ich auf der Heimreise tragen – alles andere habe ich nie wieder gesehen.

Bis heute kann ich keine Geschenke öffnen solange andere dabei sind.
Ich tue das immer wenn sie weg sind und ich alleine bin. 

Endlich der Tag der Abreise.
Es war still, wir sprachen nicht – wir saßen einfach nur da und liesen es geschehen.
Irgendwie waren wir keine Kinder mehr.

Meine Mutter holte mich vom Bahnhof ab.
Ich hatte mir im Bus alles genau überlegt was ich sagen wollte.
Im Heim hatte man uns verboten über das erlebte zu sprechen „die Eltern sonst ins Gefängnis oder müssten die Kur bezahlen".
Das war mir egal – ich wollte alles erzählen was mir passiert was... 

Endlich zu Hause (neues zu Hause – sie waren ja ohne mich umgezogen).
Keiner fragte mich irgendwas – ich sprach nicht.
Erst als meine Mutter den Koffer öffnete und erschrak über den Dreck und den Geruch – platze alles aus mir heraus... - aber weit kam ich nicht – sie unterbrach mich und sagte „ich solle aufhören mit diesen Lügen"!
Ich habe nie wieder darüber gesprochen.

Zwei Tage später in die neue Schule – neue Klasse! Eingeschüchtert – Verstört und Wortlos stand ich da, konnte mich nicht vorstellen, ich wünschte mir so sehr im Erdboden zu versinken.
Im Unterricht machte ich in die Hosen, weil ich mich nicht traute zu fragen ob ich zur Toilette dürfte....

Heute bin ich 58 Jahre alt!
Habe Ängste (die ich mir beigebracht habe, gut zu überspielen) es ist soviel Traurigkeit in mir. Ich kann niemanden sagen „ich habe Dich lieb" - ich kann es niemanden zeigen. Tief in mir bin ich ein sehr einsamer Mensch, ich habe Mauern aufgebaut die ich nicht mag, aber zu meinem Schutz dienen.
Ich habe Alpträume die sich immer sehr ähneln, habe Angst vorm Schlafen – habe schwerste Schlafapnoe.
Ich habe Angst vor schwarzen Löchern, Fahrstühlen und (...) Türen.
Ich habe Angst vorm Alleinsein – lasse aber keine Nähe zu.
Ich vertraue niemanden – lasse mich nur sehr ungern anfassen...
Ich habe Jahrelang getrunken – nur so konnte ich mit anderen Menschen umgehen, Lachen und Spaß haben...

Und immer und immer wieder diese grüne Tür...

Vor einigen Jahren bin ich zurück zu dem Heim gefahren und durfte auch hinein. Es befindet sich im Umbau und soll wieder für Kinder hergerichtet werden „Ein Alptraum"!
(Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde ein sensibler Inhalt zum Schutz der betroffenen Person und anderer entfernt)
Ich konnte nicht antworten.
Denn ja, ich habe einiges gefunden was wohl lieber verborgen geblieben wäre.
Ich habe die (...) Tür meiner Alpträume gefunden..., mir wurde übel als ich sie sah – ich wollte endlich wissen was dahinter geschehen ist, aber ich konnte einfach die Treppe nicht zu ihr nach oben gehen.
Ich sehe dort immer nur ein keines Mädchen was mit dieser Tante nach oben gehen muss – sie schließt mit einem großen Schlüsselbund die (...) Tür nach uns ab und ich muss mich ausziehen... - danach ist alles weg...“


Bericht eingegangen: Juni 2025

Jahrelange Belastungen, Verlassenheitsgefühl und Beziehung zu den Eltern

  • Kurort: DDR-Bezirk Magdeburg
  • Kurjahr: 1988
  • Kurkind: 5-jähriger Junge
  • Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur von unbekannt
  • Grund des Kuraufenthalts: unbekannt / „zur Erholung“

„(...) also, ich war im Kinderkurheim XXX - das war im Jahr 1988 - es muss u​m den XXX herum gewesen sein - ich erinnere mich daran, den XXXtag dort verbracht zu haben - insgesamt 6 Wochen… ich habe am XXX Geburtstag, d.h. ich war zu diesem Zeitpunkt noch 5 Jahre alt… das Thema spielte viele Jahre keine Rolle… etwa zur Mitte des Jahres 2022 ploppte dieses Thema gefühlt aus dem Nichts heraus auf - ohne dass ich im Vorfeld über irgendein Medium damit konfrontiert wurde… ab da begann ich für mich zu recherchieren (erstmal nur grob)… alle Einträge/Artikel, die ich im Netz zum Thema Kur-/Verschickungskinder finden konnte, waren alle noch recht „frisch“ (ab ca. 2020) - als wären in etwa zeitgleich ganz viele Betroffene erwacht… das Thema ist bei mir dann leider wieder etwas eingeschlafen… Es kam jedoch noch im gleichen Jahr wieder hoch - das war als ich Mitte Dezember dann in die Psychiatrie gegangen bin… gleich mal nebenbei, dies war nicht mein erster Berührungspunkt mit einer Einrichtung dieser Art - seit 2010 war ich ca. alle 4 Jahre in irgendwelchen stationären Therapien / in ambulanter Psychotherapie - meine Diagnosen wurden immer mehr… zu diesem Zeitpunkt jedenfalls befasste ich mich - ich hatte ja dort viel Zeit (u.a. weil ich eine knappe Woche wegen Covid-19 im Zimmer bleiben musste) - erneut mit diesem Thema - wesentlich weiter in die Tiefe gehend… ich habe u.a. in Facebook eine Gruppe zu diesem Heim gefunden und die Mitglieder, die etwas gepostet &/o. kommentiert haben, angeschrieben und befragt - u.a. mit dem Hintergrund meine Erinnerung(sfetzen) abzugleichen… gleich mal vorab, es gab positive, negative & gar keine Rückmeldungen… die negativen deckten sich dann tatsächlich mit meinem Erlebten, auf was ich gleich näher eingehen werde… ein paar wenige positive Momente gab es sicherlich auch bei mir, aber im Gesamtverhältnis nicht ins Gewicht fallend… bevor ich nun meine Erinnerungen/Erlebnisse wiedergebe noch folgendes - das Thema ist dann im Zuge einer Trennung und allen Folgen wieder eingeschlafen und jetzt ein knappes Jahr später ist es wieder da… und nun zu meinen Erinnerungen… ich kann mich an meine Rückkehr erinnern - ich habe bitterlich geweint - zu diesem Zeitpunkt sicherlich vor Freude… dort habe ich auch viel geweint - ich hatte stets schlimmes Heimweh… Stichwort: Heimwehtabletten - konnten ja Placebos, aber auch, für besonders heimwehkranke Kinder, echte sedierende Medikamente sein… keine Ahnung, was ich bekam, aber ich bekam welche… ab einer gewissen Zeit am Abend gab es scheinbar nichts mehr zu trinken - ich erinnere mich an ein starkes Durstgefühl - das hat mir übrigens auch wer anders, den ich kontaktiert hatte, mittgeteilt/bestätigt… ich meine mich daran erinnern zu können, dass wir (ein paar Kinder) durch die Gänge geschlichen sind und etwas zu trinken organisieren wollten - ist aber unsicher… das sogenannte Wassertreten und kalt duschen (am Morgen) habe ich unangenehm in Erinnerung - wir wurden mit einem Schlauch abgespült - ich nehme es rückblickend demütigend war… mein einziges und Lieblingsplüschtier (mein Affe „XXX“) wurde mir temporär weggenommen… auch glaube ich, dass ich von einer Aktivität ausgeschlossen worden bin (einmal?, öfters? - keine Ahnung) - ich meine mit einem anderen Kind im Haus gewesen zu sein, während die anderen draußen waren… Zähne putzen mit dem Finger, wenn man seine Zahnbürste vergessen hat, stand auch auf dem Plan - auch das bestätigte mir ein anderer Kontakt… manches, was mir noch im Kopf rumgeistert, fühlt sich zu schwammig an - deswegen bringe ich das jetzt nicht mit aufs Papier… ausreichend für psychischen/seelischen Schaden ist meiner Meinung nach allein die Tatsache, dass mich meine Eltern weggegeben haben - weit weg (ich lebte damals in XXX) und das für eine für ein Kind gefühlt lange Zeit - ich wurde aus meinem vertrauten Lebensumfeld herausgerissen / meinen Eltern (Bindungspersonen) weggenommen… ja, alleine das reicht für ein Trauma aus - egal, was da oben noch passiert ist… ich weiß nicht, ob ich wissen will, was da eventuell noch im Verborgenen liegt… was ich dazu sagen „muss“, es lag zu meinen Eltern sehr wahrscheinlich schon davor keine sichere Bindung vor, weshalb ich für Geschehnisse dieser Art anfälliger war als sicher gebundene Kinder… es hatte sicherlich seine Gründe, weshalb ich ein dünnes/mageres Kind war (Essensverweigerung/„Magersucht“ = Gefühl von Kontrolle, wenn sonst „nichts“ kontrollierbar ist)… ich vermute, dass schon zu diesem Zeitpunkt ein Entwicklungs-/Bindungstrauma vorlag (was bis heute nicht aufgearbeitet ist), wodurch die Erfahrungen dort sicherlich noch einschneidendere in der Wahrnehmung waren… Ich habe gestern die Petition unterschrieben… spenden konnte ich leider nicht, da ich finanziell eher schlecht situiert bin (befinde mich derzeit mal wieder im Krankenstand / Krankengeldbezug)… ich wünsche mir Aufklärung, Anerkennung (dass mir und anderen Unrecht geschehen ist), Gerechtigkeit und wenn auch eher utopisch „Entschädigung“… ich bin mein Leben lang hinter meinen (wahren) Möglichkeiten zurückgeblieben… die schlummernden Potenziale wurden / habe ich nie wirklich aktiviert… wie auch, wenn man mit verschiedenen Symptomatiken hadert und das Leben einer einzigen Kompensation gleicht… weil das Nervensystem immer latent in der Übererregung ist… und im weiteren Lebensverlauf habe ich immer mehr negative Lebensereignisse (z.T. weitere Traumata) angezogen… das soll erstmal reichen. (...)“


Die auf dieser Website veröffentlichten Berichte beruhen auf persönlichen Erinnerungen ehemaliger Kurkinder in der DDR. Zum Schutz der Privatsphäre wurden alle personenbezogenen Angaben anonymisiert. Bitte beachten Sie, dass die Inhalte emotional belastend sein können.

Für Inhalte Dritter und externe Links wird keine Haftung übernommen.

Sämtliche Texte, Materialien und künstlerischen Werke unterliegen dem Urheberrecht, einschließlich Projekttitel, Slogan und Zusatztitel. Eine Nutzung oder Vervielfältigung ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Urheberin bzw. des Urhebers gestattet.

Das Projekt mit künstlerisch-dokumentarischem Fokus wird ehrenamtlich und unabhängig betrieben. Ziel ist die Aufarbeitung, Aufklärung und Dokumentation historischer Erfahrungen der DDR-Kinderkuren, um zukünftiges Unrecht zu verhindern.