Zeitzeugnisse
aus DDR-Bezirken in Mecklenburg-Vorpommern
Neueste zuerst; antichronologisch sortiert
Bericht eingegangen: Oktober 2025
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern
Kinderkur in der DDR 1980er Jahre: Jugend, Alltag, Ernährung, Körperbild und soziale Beziehungen
- Kurort: DDR-Bezirk Rostock
- Kurjahr: 1987
- Kurkind: 12-jähriges Mädchen
- Anzahl der Kurerfahrungen: 2. Kur (insgesamt 2)
- Grund des Kuraufenthalts: „Untergewicht“
Bericht 2. Kur
1987 wurde ich dann erneut auf Kur geschickt. Diesmal auf „Mästkur“, da ich für meine Größe untergewichtig war und zu diesem Zeitpunkt immer noch meistens wenig Freude am Essen hatte. Ich wurde immer als zu dünn gehänselt.
Mit 12 Jahren nimmt man die Dinge schon etwas anders wahr und wird sicher auch anders von den Betreuungspersonen behandelt. So viele Dinge sind mir aus XXX aber trotzdem auch nicht in Erinnerung geblieben. Wenn ich so andere Berichte auf Social Media zu diesem Kurheim gelesen habe, denke ich, ich habe damals noch Glück gehabt.
In schlechter Erinnerung ist mir bei XXX natürlich das Thema Essen geblieben. Im Ergebnis bin ich ironischerweise dann auch mit weniger auf der Waage wieder nach Hause gekommen. Ich erinnere mich aber an keine konkreten Mahlzeiten außer dem Frühstück. Es gab Brötchen oder vielleicht auch Weißbrot und ich habe sie bevorzugt mit Rübensirup gegessen, den mochte ich wenigstens. Was eklig war, war die Ameisenstraße in den Schränken, in denen das Frühstückszeug aufbewahrt wurde. Am Sirup und der Marmelade klebten dann auch regelmäßig Tierchen. Wir mussten zwar immer saubermachen, aber das hat nicht geholfen. Wir schliefen in diesen barackenartigen Gebäuden, bestimmt mindestens 6 Mädchen auf dem Zimmer. Den Stil fand ich damals von außen zumindest ganz schön. Holz und freundlich weiß, Bäderarchitektur. Da ich schon mehrmals mit meinen Eltern vorher im XXX Teil XXX in Urlaub war, habe ich mich dort auch nicht ganz so fremd gefühlt, auch wenn es extrem weit weg von Zuhause war.
Es gab glaub ich Frühsport, definitiv ständig Fußgymnastik (ich kann heute noch Dinge mit meinen Zehen aufheben) und die elendige tägliche Bürstenmassage jeden Morgen. Mache ich heute freiwillig, damals tat es einfach nur weh und war extrem unangenehm. Ich habe aufgrund schlechter Körperhaltung auch Rückenschule. Ein Bewegungs-Spruch ist mir hängen geblieben. „Allah ist groß, Allah ist mächtig, Allahs Bauch ist 3 Meter sechzig. Allahs Bauch ist unser Ziel, drum essen wir so viel.“ Hat ja nun nicht gefruchtet.
Es gab ein Sportfest, es gab Spaziergänge ans Wasser und in den Ort, ich glaube auch mal ein Unterhaltungsprogramm. Briefe/Karten durften wir alleine schreiben. Ob sie kontrolliert wurden, weiß ich nicht. Aber scheinbar ist alles zuhause angekommen. Ich habe von Heimweh geschrieben und dass ich nach Hause möchte. Und dass die Jungs doof sind. Zum letzteren habe ich dann auch eine schriftliche Standpauke von meinem Vater zurückbekommen. Diese Briefe gibt es glaub ich noch irgendwo. Wir hatten in der Zeit auch Unterricht, dann mit den Jungen zusammen, aufgeteilt nach Klassenstufen.
Alles in allem war die Zeit nicht schön, aber aushaltbar. Durch Ferienlageraufenthalte war ich auch den Abschied von Zuhause inzwischen etwas gewohnt. In diesem Alter können sich Kinder ja dann auch untereinander schon etwas Beistand geben. Unsere Gruppe hat jedenfalls gut zusammengehalten und es wurde soweit ich mich erinnere niemand gemobbt. Auch der Kontakt zu den Jungs hat uns sicher etwas von der Situation abgelenkt. Ich war aber dann froh, wieder zuhause zu sein, auch wenn der Abschied von den neuen Freundinnen schwerfiel.
Hinweis: Das Zeugnis wurde in Mecklenburg-Vorpommern eingeordnet. Vor dieser zweiten Kur fand eine erste Kur im DDR-Bezirk Suhl statt. Den Bericht von Oktober 2025 dazu findest du auf den Unterseiten unter Thüringen → Kinderkur in der DDR 1980er Jahre: Frühkindliche Trennungen, Ängste, Heimweh und bleibende körperliche und seelischen Folgen.
Bericht eingegangen: Mai 2025
Bundesland Mecklenburg Vorpommern
Kinderkur in der DDR 1960er Jahre: Zwang, Strafen, Krankheiten, Krankenhausaufenthalt und väterliche Abholung
- Kurort: DDR-Bezirk Rostock
- Kurjahr: 1966 oder 1967
- Kurkind: 5-jähriges Mädchen
- Anzahl der Kurerfahrungen: 1. Kur (insgesamt 1)
- Grund des Kuraufenthalts: „schlechter Esser“
Triggerwarnung – besonders belastendes Zeitzeugnis: Dieses Zeitzeugnis enthält belastende Erinnerungen an Zwang, Strafen, Demütigungen, Isolation, Heimweh und einen Krankenhausaufenthalt.
Bitte achte auf dein Wohlbefinden: Atme einmal tief durch, nimm deinen Körper im Hier und Jetzt wahr und mache eine Pause, wenn es dir nicht gut geht. Du kannst den Bericht in Abschnitten lesen und jederzeit unterbrechen, um dich nicht zu überfordern.
Es gibt keine Unterlagen mehr dazu und von meinen Eltern habe ich auch nur noch erfahren können, dass ich im Alter von 5 Jahren verschickt wurde.
Es gab damals noch sogenannte Vorschuluntersuchungen vor der regulären Einschulung.
Ich war ein agiles, gesundes Kind und auch auf dem, für die Einschulung notwendigen Entwicklungsniveau. Aber ich war sehr schlank und ein sogenannter "schlechter Esser" und so kam es zu dieser Entscheidung. Meine Eltern haben es mit Sicherheit gut gemeint, darüber hinaus handelten sie auch auf Empfehlung des entsprechenden Kinderarztes. So musste ich in ein Kinderkurheim der ehemaligen SV (Sozialversicherung) der DDR. Da meine Mutter bei der SV tätig war, kam es zu dieser Ortsauswahl. Ich weiß nicht mehr ob es im (...) 1966 oder Anfang (...) 1967 war. Das Wetter war sehr kalt, stürmisch und nass. Im (...) '67 wurde ich dann 6 Jahre alt und im September '67 eingeschult.
Geplant waren 6 Wochen Kuraufenthalt.
Ich erinnere mich an einen Zug in meiner Heimatstadt, in den ich einsteigen musste. Drin war es sehr laut, es waren sehr viele andere, mir völlig unbekannte Kinder da. Meine Mutter stand auf dem Bahnsteig und ich musste mich lt. Anweisung einer Begleitperson sofort im Zugabteil setzen.
Ich durfte nicht mehr ans Fenster zum Winken.
Weitere Erinnerungen an diese lange Fahrt habe ich keine.
Im Kurheim erinnere ich mich an ein Zimmer mit sehr vielen Betten. Wir mussten unsere persönlichen Sachen abgeben und bekamen sie später zugeteilt.
Ich erinnere mich an Kleidung, die gar nicht mir war, aber ich musste alles tragen. Es passte mir nicht.
Toilettengänge waren nur drei Mal am Tag, genau nach den Mahlzeiten erlaubt. Die Toiletten waren hinter dem Speisesaal.
Zu den Mahlzeiten gab es meist irgendwelchen undefinierbaren Brei und es musste immer und alles aufgegessen werden. Wer es nicht in der entsprechenden Zeit schaffte, der blieb sitzen bis der Teller leer war.
Manche Kinder erbrachen sich und mussten das Erbrochene danach essen.
Ich war regelmäßig eine von wenigen Kindern, die im Speisesaal sozusagen "nachsitzen" mussten.
Wir waren dann alleine.
Die anderen Kinder hatten die Toilettenrunde schon hinter sich und waren in den Zimmern.
Natürlich mussten wir Langesser dann auch noch auf die Toilette, was allerdings dann aber verboten war.
Darüber hinaus gab es nur an der Eingangstür zum Vorraum/ Waschraum der Toiletten das Toilettenpapier. Es hing oben im Türrahmen und wurde stückweise von den Erwachsenen an die Kinder ausgegeben.
Für 5-Jährige nicht erreichbar!!
So kam es, dass ich eingenässt habe.
Nun wurde mein Fauxpas natürlich schnell bemerkt, oder vielleicht habe ich es auch gebeichtet?
Ich bekam den Befehl mich auf der Stelle- es war im Treppenhaus auszuziehen und im Waschraum meine Unterwäsche selbst auszuwaschen.
Eine dieser dicken grau uniformierten "Erzieherinnen" hängten dann meine Wäsche auf einen Heizkörper, eben in diesem Treppenhaus und ich musste mich, so wie ich war, daneben stellen, bis sie trocken ist.
Ich fühle heute noch diese unendliche Scham, diese Demütigung und Hilflosigkeit, als ich dort nackt stand und andere Kinder gingen hänselnd an mir vorbei.
Mir war sehr kalt und ich weiß nicht wie lange ich dort stand. Inzwischen war es dunkel und still im Haus und alle anderen Kinder schliefen.
Erlöst wurde ich dann von einer Erzieherin, die nur nachts da war. Sie gab mir ein Nachthemd und schickte mich zum Schlafen. Auch im Bett fror ich noch lange.
Wer in der Nacht austreten musste, dem stand ein Nachttopf zur Verfügung. Einer für alle.
Er wurde abends mitten in den Schlafraum gestellt und war am Morgen übervoll.
Nach und nach wurden Kinder krank. Sie hatten sich mit Masern u/o Keuchhusten infiziert und wurden dann mit einem Krankenwagen abgeholt.
Ich hatte von Anfang an furchtbares Heimweh.
Alles machte mir Angst. Warum musste ich an diesen grauenhaften Ort. Was hatte ich falsch gemacht....?
Ich weinte jede Nacht- heimlich. Wenn es bemerkt wurde, galt man als ungehorsam und musste in der Ecke stehen.
Ich erinnere mich noch an einen Gang zum Strand.
Der Weg ging durch einen kleinen Wald direkt gegenüber des Heimes.
Nur dort hatte ich einen Augenblick das Gefühl frei atmen zu können. Es war sehr kalt und hat geregnet. Ich kam kurz auf die Idee wegzulaufen, aber ich wusste gar nicht in welche Richtung....
Im Heim waren ständig Angst und Heimweh präsent. Wir wurden mit militärischem Drill durch die Tage geführt und öfter auch körperlich gezüchtigt. Manchmal wurden nur Fragen schon bestraft.
Wir waren keine Kinder, wir waren Häftlinge.
So vergingen die Tage....
Nichts Liebevolles, kein nettes Wort, kein Lächeln.....grau uniformierte böse Frauen mit zerfurchten starren Gesichtern erteilten laute Befehle.
Irgendwann bekam ich Fieber und wurde in einem Einzelzimmer ins Bett gepackt. Ich bekam Essen gebracht und mein Töpfchen wurde geleert. Ansonsten war ich 24 Stunden völlig allein.
Ich bin heimlich aufgestanden und habe die Zimmertür geöffnet und einen Spalt aufgelassen. Ich hatte Angst, dort irgendwie vergessen zu werden. Ich hatte Albträume in denen alle Kinder nach Hause fuhren, nur ich war noch in dieser Kammer, ...alleine und vergessen.
Auch ich wurde dann mit einem Krankenwagen in ein Krankenhaus gefahren.
Nach der Kur erfuhr ich, dass es in XXX war. (Das Krankenhaus gibt es inzwischen nicht mehr.)
Dort lag ich wieder in einem großen Zimmer mit vielen Kindern. Einige waren mir noch bekannt.
Dort dufte ich auf Toilette, wann immer ich musste. Das Essen musste nicht aufgegessen werde. Die Schwestern waren sehr nett und machten Spaß mit uns und wir hatten unsere Koffer mit unserer Kleidung bei uns. Damals gab es kaum Telefone. Ein Brief von meinen Eltern, wurde mir im Kurheim zur Hälfte (?) vorgelesen, weil dann Nachtruhe war.
Ich habe den Brief nie wiedergesehen.
Daher hatte ich den Gedanken aufgegeben, je wieder nach Hause zu kommen........die Bilder von zu Hause waren alle schon so weit weg und verblassten.
Ich war so unendlich traurig und alleine.
Aber hier im Krankenhaus war es trotzdem besser, hier wurde ich getröstet, hier war man nett zu mir. Wenn es schon sein muss, dann konnte ich ja vielleicht hier bleiben.....????
Ich weiß nicht wieviel Zeit verging...Eines Abends kam eine der Schwestern ins Zimmer, holte meinen Koffer unter dem Bett vor und bat mich, mich schnell anzuziehen. Ich würde jetzt abgeholt werden.
Schlagartig waren diese grenzenlose Angst und der furchtbare Druck in meinem Bauch wieder da, denn ich befürchtete, zurück in dieses Heim zu müssen. Ich habe geweint und mich sehr gesträubt.
Die Worte der Schwester, dass mich mein Vater abholt, drangen nur sehr langsam zu mir durch.
Das Gefühl von Freude, dass sich meine Eltern an mich erinnern, vermischt mit einer furchtbaren Angst davor, dass es eine Lüge ist, spüre ich auch heute noch.
Ich erkannte den Mann am Ende der Treppe nur langsam, aber es war tatsächlich mein Vater. Neben ihm stand ein anderer Mann, es war der Fahrer des Dienstwagens. Mit den Worten: "Jetzt fahren wir nach Hause", nahm er mich an die Hand und stieg mit mir in einen alten Wartburg ein. Mein Vater war zwei Tage auf einer betrieblichen Dienstreise in XXX und hat entschieden, meinem Aufenthalt nun ein Ende zu setzen.
Wir fuhren über Nacht nach Hause. Ich hatte Angst zu schlafen, alles war so unwirklich...
Als meine Mutter am nächsten Morgen meinen Koffer auspackte, war dort eine kleine Seemannspuppe drin. Sie freute sich, über die Mitgabe der Kurklinik.
Ich habe die Puppe sofort meinem kleinen Bruder geschenkt.
Inzwischen bin ich 64 Jahre alt.
Über die Jahre kamen langsam Erinnerungen zurück und formten ein eher unvollständiges Bild.
Aber die Gefühle die dieses Bild begleiten, sind nach so vielen Jahren noch sehr präsent.....und sie tun noch immer weh.
Die acht Wochen auf XXX haben mein Leben, ja meine Entwicklung geprägt. Mir wurde ein Teil unbeschwerte Kindheit genommen.
Ich habe mein Grundvertrauen in Menschen verloren.
Ich verlasse mich am liebsten nur auf mich und das was ich selbst tue.
Es ist sehr schwer mein Vertrauen zu erlangen. Meine Familie und mein Zuhause sind mir heilig und ich habe Verlustängste.
Vor zwei Jahren habe ich nach einer Recherche das ehemalige Kurheim in XXX gefunden.
Es ist eine schöne alte Villa, saniert und in Privatbesitz/ Ferienunterkunft. Ich stand eine Weile davor und mein Mann fragte mich worauf ich denn warte.
Ich hatte irgendwie gehofft, ich würde auf eine dieser grauen bösen Frauen treffen, um ihr ins Gesicht zu spucken.....
Ich weiß, dass viele andere Kinder noch sehr viel Schlimmeres während dieser Kuraufenthalte miterleben mussten als ich.
Aber auch meine Geschichte soll zur Aufdeckung dieser Zeit dienen und mit dazu beitragen, dass Pädagogik Kinderseelen nicht brechen darf!!!
Ich erwarte nicht, dass irgendjemand für das Geschehene die Verantwortung übernimmt.
Aber es muss zukünftig verhindert werden!
Hinweis: Das Zeitzeugnis wurde in Mecklenburg-Vorpommern eingeordnet.
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